Fliehen müssen. – Ankommen dürfen.

 

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Manchmal ziehe ich mich zurück.
Hin und wieder muss ich mich abgrenzen.
Abends schließe ich die Türen ab und mich ein.
Ich schütze mich, meine Familie, mein Hab und Gut, meine Nachtruhe.

Aber noch nie fielen Bomben auf mich nieder.
Niemals wurde jemand, der mir lieb war, getötet.
Noch nie lag mein Haus in Trümmern, als ich nach Hause kam.
Und noch nie habe ich in einem Unrechtsstaat leben müssen.

Weil es aber Menschen gibt, denen genau das widerfährt, müssen wir diese in unsere Schutzräume mit einschließen, anstatt uns zu zusätzlichen Gefährdungen für sie aufzubauen.
„Wir sind das Volk“ ist in diesem Zusammenhang ein ziemlich dummer Satz, scheint mir. Was soll denn das bedeuten? Was daraus folgen?

Wir alle sind Menschen, schrieb neulich eine Schülerin von mir. So einfach ist das im Grunde. Und um nichts anderes geht es.
Wir sollten einander vor Bombardierung und Zerstörung beschützen, wir können uns helfen und kennenlernen. Rücken wir doch zusammen. Hier ist es noch lange nicht eng.
Lernen wir von einander, dass das Fremde nur so lange fremd ist, wie wir es uns noch nicht vertraut gemacht haben. Danach ist es vielleicht nur noch das Andersartige. Und vielleicht noch nicht einmal das.

Mir sind viele Menschen fremd. Alle kann und manche will ich nicht kennenlernen, zum Beispiel grölende Pegida-Aktivisten und verkappte Facebook-Nazis. Sie widern mich an, und ich schäme mich furchtbar für sie. Eigentlich möchte ich gar nicht, dass es sie gibt.
Aber sie sind da. Sie spucken ihre braune Angst über eine traurige Sachlage aus Vertreibung, Traumatisierung und Heimatlosigkeit.
Lehren wir sie, dass unser Rechtssystem funktioniert. Dass das nicht geht, was sie tun: Asylantenunterkünfte anzünden, Geflüchtete erschrecken und in der Anonymität des Internets haltlos hetzen. Hier muss unser Rechtsstaat genau so präsent sein wie in Situationen, in denen sexuelle und andere Übergriffe passieren, egal durch wen. So etwas dulden wir nicht. Es entspricht nicht unserem Rechtsempfinden. Darauf haben wir uns geeinigt. Dazu stehen wir.
(2000 Jahre Christentum, die Aufklärung eines Immanuel Kant und das jahrelange fatale Blühen und Wüten von Adolf Hitlers kranken Ideen in unserem Land haben uns sehr genau gelehrt, was geht und was nicht.)

Vieles am Islam ist mir fremd. Auch vieles am Christentum. Ich verurteile islamistische Anschläge ebenso wie die Kreuzzüge, die Inquisition, Hexenverbrennungen und Kindesmissbrauch durch christliche Geistliche. Die Unterdrückung der Frau findet sich in beiden Religionen gleichermaßen wieder, ebenso die Ächtung von Homosexualität, und ich muss wohl nicht lange erklären, was ich davon halte.

Allerdings: Ich wurde noch nie verbrannt, fiel keinem Anschlag zum Opfer, musste mich nie verstecken mit dem, wie und was und wer ich bin.
Ich musste noch niemals flüchten aus meinem Leben. Ich durfte mir Orte suchen, an denen ich wachsen und lernen und arbeiten konnte. Wo ich willkommen war. Ich durfte Heimat haben und Wahlheimat, ein Zuhause gründen für mich und die, die ich liebe. Ich darf mit meinen Freunden leben und meinen Kollegen, mit Schülern und Nachbarn und Hunden und Bäumen und Wassern und so vielem mehr, was das Leben jeden Tag wunderbar macht.

Und nie, noch NIEMALS fiel eine Bombe.

Sind das nicht viele gute Gründe, mein Land und mein Leben zu öffnen für die, die vollkommen unverschuldet in solche Bedrängnis geraten sind, dass sie fliehen mussten? Dass sie weite, beschwerliche, unbequeme und lebensgefährliche Wege in Kauf nahmen? Dass sie Familien und Freunde zurückließen, weil das Geld nicht reichte oder die Kraft?

Sind wir es nicht ihnen und uns schuldig, uns in dieser Situation als Mit-Menschen, Brüder und Schwestern zu bewähren?
Niemand sollte fliehen müssen.
Aber wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt, sollte jeder irgendwo ankommen und sich sicher fühlen dürfen. Auch und ganz besonders hier bei uns.

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