Abiturentlassung

Immer findet sie statt zu einem Zeitpunkt, zu dem die energetische Gesamtsituation sich im Grunde schon im Minusbereich bewegt. Immer.
An einem mehr oder weniger sommerlichen Freitagnachmittag versammeln sich Hunderte Eltern, Großeltern, Geschwister, Freundinnen, Freunde, Lehrerinnen, Lehrer und allerlei Gäste in der größten verfügbaren Halle der Kleinstadt.
Vom Podium schwappt Blumenschmuck, und die Big Band der Schule ist bereit.
Spätestens beim feierlichen Einmarsch der jungen Leute steht mir zum ersten Mal das Wasser in den Augen. Wie die Entenküken folgen unsere ehemaligen Schülerinnen und Schüler ihren Tutorinnen und Tutoren durch den Mittelgang, der das stehende Auditorium teilt.
Wie gut sie aussehen! Wie festlich! Wir kennen sie ja hauptsächlich in Sportklamotte oder mit zerzaustem Haar, wenn angeblich der Wecker wieder mal nicht rechtzeitig geklingelt hatte.

Jetzt sind sie groß. Heute gehen sie fort.
Es ist ihr allerletzter Schultag.
Wir feiern Abiturentlassung.

Musik brandet auf, wir setzen uns, und es werden vielfältige Reden gehalten.
Der Schulleiter, die Elternvertreterin, der Vorsitzende des Ehemaligenvereins, der Abiturient, die Lehrerin. Das bin ich.
Wir haben etwas ausgeheckt, der Abiturient und ich, etwas Geheimes, Überraschendes: zwei Abiturreden mit einer gemeinsamen Schnittstelle. Wir haben uns heimlich getroffen und das vorbereitet, den Dialog in der Mitte. Die Übergabe des Staffelstabes, unseren Abschied als Gespräch.
Wir waren ein bisschen aufgeregt, aber es ist gelungen. Es hat funktioniert, und wir werden im Anschluss an die Feier vielfach gelobt.

Zahlreiche Eltern bedanken sich bei mir für meine Ansprache: Väter mit herzlichem Händedruck und Mütter, die hinter vorgehaltener Hand gestehen, wie sehr sie weinen mussten in der Dunkelheit des Zuschauerraums. Ich bin froh. Genau so war es gedacht. Wir alle reißen sie uns ja vom Herzen, die groß gewordenen Kinder, wenn sie jetzt gehen, immer selbständiger zu lernen, zu arbeiten und ihre Leben zu gestalten, ohne uns.
Tränen gehören dazu.

Sie werfen ihre albernen Doktorhüte in die Höhe, obwohl sie keine amerikanischen Doktoranden sind, sondern ostfriesische Abiturienten. Einer bleibt in einem Baum hängen.
Sie halten Zeugnismappen in der Hand und die roten Rosen, die ihre Schule ihnen zum Abschied geschenkt hat.

Viele kommen auf mich zu, docken nochmal kurz an, sagen tschüs.
Eine junge Frau stellt, als ich schon am Fahrradständer stehe, fest: „Dann sehen wir uns jetzt ja gar nicht mehr wieder.“ Ihre Freundschaftsanfrage bei Facebook lässt später nicht lange auf sich warten. Wir bleiben in Verbindung. Irgendwie. Es wird anders sein als bisher, aber unsere Leben haben sich berührt. Das vergessen wir nicht. Es hält uns warm und ist schön.

Ein langer Kerl kommt von der Seite. Sport-Leistungskurs. Wir hatten einmal einen schlimmen Konflikt. Er fühlte sich von mir schlecht behandelt, fand meine Bewertung seiner Leistung ungerecht und falsch. Er war enttäuscht von mir und beklagte sich bitterlich bei seinem Tutor über mich.
Wir konnten das klären. Wir haben zweimal darüber geschlafen und dann das Gespräch wieder aufgenommen. Wir haben uns erklärt und argumentiert. Am Ende stand eine Lösung – und dass wir wieder mit einander lachen konnten.
Jetzt steht er da und legt seinen langen starken Arm um mich. Und noch einen. Einmal drücken, bevor wir auseinandergehen.  Ich bin froh, dass er mich anstrahlt, dass nichts geblieben ist von seinem Schmerz.

Es wird Sekt getrunken und fotografiert.
Und dann ist es irgendwann vorbei.

Ich bleibe hier. Wir machen weiter Schule. Ihr wisst ja, wo ihr mich findet.
Macht’s gut, ihr Lieben.

P.S.: Die beiden Ansprachen (Lehrer- und Schülerrede) können unten angeklickt werden.

Abirede 2017

Abirede 2017 Sebi

3 Antworten

  1. Hallo, Frau Korte.
    Dieser Text ist sehr beeindruckend, und habe ihn soeben ausgedruckt Ich hätte auch gerne einen Ausdruck von ihrer Ansprache auf der Entlassungsfeier der auch das wiederspiegelte welchen Beitrag auch die Eltern zu dem Erfolg ihrer Kinder geleistet haben.
    Es wäre nett wenn sie ihn mir zukommen lassen würden

    l.g. D.Alberts

    • Liebe Frau Alberts, ich freue mich über Ihr Lob. Die Abiturrede ist direkt unter dem Artikel verlinkt. Klicken Sie einfach auf „Abirede 2017“, dann haben Sie sie schon. Herzlichen Gruß!

      • Danke, eine sehr schöne Erinnerung an die Schulzeit der Kids.
        Wünsche ihnen noch viel erfolgreiche Jahre.
        l.g. D.Alberts

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